Amazing Grace
(Hintergrundinformation)


Elvis Presley, Andrea Bocelli, Whitney Houston, Rod Stewart – große Stimmen nehmen es mit großen Songs auf, und es geht kaum größer als Amazing Grace. Neben Happy Birthday und Jingle Bells ist diese reumütige Ode an Gott und die Kraft der Veränderung ein Lied, das quer über den ganzen Erdball bekannt ist. Ein Schurke sucht darin Gnade – Versöhnung. John Newton war nicht nur der geistige Vater dieses Liedes – er war dieser Schurke. Auf der Inishowen-Halbinsel in Donegal kennt ihn jedes Kind.
Die erstaunliche Karriere des Liedes "Amazing grace" beginnt vor rund 250 Jahren. John Newton (1725-1807), in Westafrika am Sklavenhandel beteiligt und später Pfarrer, beschreibt das Erlebnis seiner Bekehrung: Er überlebt auf hoher See einen schweren Sturm. Der Song, zu deutsch "Erstaunliche Gnade", wird später von US-Bürgerrechtlern gesungen, erklingt auf Konzerten und in Kirchen auf der ganzen Welt. Von unzähligen Musikern aufgenommen, stand er 1972 sogar an der Spitze der britischen Charts. Auf dem Gospel-Kirchentag in Kassel vom 19. bis 21. September 2014 hat nun ein Musical mit dem Namen "Amazing grace" Premiere, das das Leben John Newtons erzählt.
Das Leben des John Newton ist eine Fahrt durch menschliche Höhen und Tiefen. Geboren am 24. Juli 1725 in London, verliert er mit knapp sieben Jahren seine Mutter. Mit elf Jahren wurde er Schiffsjunge und verliebte sich in seine Cousine Polly. Aufgrund der Tatsache, dass er nur Augen für Polly hatte, verpasste das Schiff, auf dem er seinen Dienst antreten sollte. Die Royal Navy allerdings rekrutierte ihn im Jahre 1743 zwangsweise für ein Kriegsschiff. Da John Newton ein eher streitsüchtiger, aufsässiger und hochnäsiger Kerl war, tauschte die Navy ihn, wie einen einfachen Sklaven, auf Madeira gegen zwei Matrosen eines Handelsschiffes ein. So gelang er nach Sierra Leone und wurde Aufseher eines Sklavenlagers. Seinen schlechten Charaktereigenschaften lässt er dort zügellosen Lauf: Er nahm sich, was er wollte und verging sich an Sklavinnen. Mit der Zeit wurde Newton immer unzufriedener und obendrein auch noch krank, konnte alleine aber diesem Zustand nicht entkommen.
Als Newton 1748 in die Heimat zurückkehrt, gerät er mit seinem Schiff in einen verheerenden Sturm, den er nur wie durch ein Wunder überlebt. In dem Sturm, der Newton und seine Mitreisenden fast das Leben kostete, überkam ihn eine so große Angst, dass er Gott um Gnade anflehte. Diese kam in Gestalt des Lough Swilly, eines ruhigen, fjordartigen Meeresarms, der die Grafschaften Donegal und Derry teilt. In Inishowen wurde das Schiff repariert und der Besatzung Unterkunft gegeben.
Das hat er als eine Rettung Gottes verstanden und später als Bekehrung beschrieben. Eine Bekehrung, die an Newtons Einstellung zur Sklaverei aber vorerst nichts ändert. Die Sklaverei hat Newton zunächst gar nicht als Unrecht empfunden, da er selbst Kapitän eines Sklavenschiffes war.
Newton heiratet seine Jugendliebe Polly und fährt erneut zur See. Zwischen 1750 und 1754 transportiert er zahlreiche Sklaven aus Westafrika, die unter katastrophalen Bedingungen auf den Schiffen zusammengepfercht werden. Doch Newton kränkelt. Erst im Laufe von drei langen Fahrten steigert sich die Ablehnung. Die Transporte, deren Gestank zeitgenössischen Berichten zufolge auf dem Meer noch in einer Meile Entfernung wahrgenommen wurde, stießen ihn zunehmend ab. Angewidert und entnervt gibt er auf und wird Hafenmeister. Doch erst die Begegnung mit John George Whitefield verändert ihn vollständig. Das ist 1755, Newton ist 30 Jahre alt. Ihm wird klar, dass es Glaube ohne Konsequenzen für das eigene Leben nicht gibt. Es ist, als ob sich ihm plötzlich die Augen geöffnet hätten. Mehr und mehr wand er sich der Religion zu, studierte die biblischen Sprachen, dann auch Theologie, und beschloss, Pfarrer zu werden. Doch die anglikanische Kirche wollte ihn zunächst nicht, da er als charakterlich labil und theologisch unsicher galt. 1764 schließlich wurde er zunächst als Diakon, dann als Pfarrer der anglikanischen Kirche ordiniert. Außerdem wurde er zu einem großen Gegner der Sklaverei: Seine Berichte über die Zustände auf den Schiff en verändern die öffentliche Meinung. Außerdem bringt er den Politiker William Wilberforce – dem er als Seelsorger und väterlicher Freund verbunden ist – dazu, in der Politik zu bleiben und die Abschaffung der Sklaverei als ihm von Gott gestellte Aufgabe zu verstehen.
1773 ist es dann soweit: Newton schreibt den Text von "Amazing grace", in dem er sein Bekehrungserlebnis in Seenot verarbeitet: "Einst war ich verloren, aber jetzt wurde ich gefunden; war blind, aber jetzt kann ich sehen". Ursprünglich dienten die Verse wohl der dichterischen Illustrierung einer seiner Predigten. Der Gedanke, dass dieses Lied 200 Jahre später um die ganze Welt gehen sollte, dürfte ihm fremd gewesen sein. Die heute gebräuchliche Melodie taucht erstmals in einem englischen Gesangbuch von 1831 auf. Ihre Herkunft ist nicht geklärt, vermutlich liegen die Wurzeln in den Gesängen der Sklaven.
Mehr als 30 Jahre nach dem Ende seiner Karriere als Sklavenkapitän geht Newton noch einen Schritt weiter und bringt 1788 eine Schrift mit dem Titel "Gedanken über den Sklavenhandel" heraus. Hier beschreibt er die grausige Realität des Sklavenhandels aus eigener Anschauung und bereut öffentlich, selbst darin verwickelt gewesen zu sein.
Die Schrift erregt Aufsehen, eine Neuauflage wird nötig. Auch William Wilberforce, ein engagierter Kämpfer gegen die Sklaverei, wird darauf aufmerksam. In ihm findet Newton einen engagierten Streiter, der im Parlament für die Abschaffung der Sklaverei eintritt. Rund 20 Jahre später, im Jahr 1807, nur kurz vor Newtons Tod, kommt der Triumph für die britischen Gegner der Sklaverei: England verbietet den Sklavenhandel.
Der Mann, der selbst Sklave war und an versklavten Menschen viele Verbrechen beging, wurde zu einem ihrer prominenten Fürsprecher, und das bis über den Tod hinaus. Denn auch seine Grabinschrift erinnert an „Amazing Grace“ – und die Menschen, denen er die Freiheit bringen wollte: „Hier ruht John Newton, früher einmal ein Ungläubiger und Wüstling, ein Diener der Sklaven in Afrika, wurde durch die reiche Gnade unseres Herrn und Retters Jesus Christus erhalten, wiederhergestellt und begnadigt.“ Als er 1807 starb, war der Sklavenhandel auf englischen Schiffen bereits einige Monate verboten.